Epochierende Entdeckung am Cern in Genf: Zum ersten Mal konnten Wissenschaftler die Wechselwirkung von Neutrinos, den "schwer fassbaren" Teilchen im Universum, beobachten
Der Large Hadron Collider (LHC) ist der größte und leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt: Der LHC war unter anderem für die bahnbrechende Entdeckung des Higgs-Bosons, des sogenannten Gottesteilchens, verantwortlich, das 2012 am Cern in Genf nachgewiesen wurde. Heute stehen die Wissenschaftler, die sich mit der Analyse der Teilchenbeschleunigung beschäftigen, an einem Wendepunkt, der ebenso epochal sein könnte: Zum ersten Mal in der Geschichte wurden Neutrino-Wechselwirkungen nachgewiesen.
Die ersten Neutrino-Spuren
Die in der Fachzeitschrift Physical Review D veröffentlichte Studie veranschaulicht die Ergebnisse von Beobachtungen, die in den vergangenen drei Jahren im Rahmen des wissenschaftlichen Programms des Large Hadron Collider durchgeführt wurden. Das von der University of California geleitete FASER-Experiment (Forward Search Experiment) wurde 2018 gestartet: Ziel ist es, nach neuen ultraleichten Teilchen zu suchen und die Wechselwirkung von "beschleunigten" Neutrinos zu analysieren.
Unter den subatomaren Teilchen ist das Neutrino besonders komplex zu untersuchen, da seine elektrische Ladung gleich null ist und seine Möglichkeiten zur Wechselwirkung mit der übrigen Materie daher sehr begrenzt sind.
In der Teilchenphysik heißt es, dass für den Einfang der Hälfte der Neutrinos, die Materie durchdringen, eine unwahrscheinliche "Lichtjahr dicke Wand aus Blei" erforderlich wäre: Das Experiment, das seit drei Jahren am Cern läuft, nutzt den Teilchenbeschleuniger, umfasst aber auch Schichten aus Blei und Wolfram sowie eine Kernemulsion.
Die 27 Kilometer supraleitenden Magneten, die den Ring des LHC bilden, sind in der Lage, subatomare Teilchen mit Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit zu bewegen, so dass die Auswirkungen von Zusammenstößen zwischen Atomen beobachtet werden können. Zu diesen Effekten gehört die Möglichkeit, dass aus Kollisionen ultraleichte Teilchen hervorgehen, die dann - oft zum ersten Mal - untersucht werden können.
Das war beim Higgs-Boson der Fall und ist jetzt beim Neutrino der Fall, dem am wenigsten bekannten und am komplexesten zu untersuchenden Elementarteilchen, das zum ersten Mal beobachtet wurde.
Das Faser-Experiment
Bei den Kollisionen im Teilchenbeschleuniger des Cern stoßen einige der bei den Zusammenstößen erzeugten Neutrinos mit den Metallkernen im Kernemulsionsdetektor im Zentrum des Experiments zusammen.
Dass die Neutrinos sichtbar werden, ist einer "Bleiwand" zu verdanken: Durch Kollisionen mit Blei- und Wolframkernen entstanden, hat die Reise der Neutrinos durch die Schichten der Kernemulsion Spuren hinterlassen, die die Wissenschaftler erstmals beobachten konnten.
Sechs Neutrino-Wechselwirkungen wurden während des Experiments beobachtet. Dies ist nicht nur ein wichtiger Durchbruch, der es uns ermöglichen wird, die Natur des Universums besser zu verstehen, sondern auch ein Beweis für die Wirksamkeit der für das FASER-Experiment getesteten Instrumente. "Dieser bedeutende Durchbruch", so Jonathan Feng, Mitautor der Studie, "ist ein Schritt in Richtung eines tieferen Verständnisses dieser schwer fassbaren Teilchen und der Rolle, die sie im Universum spielen".
Vor dem FASER-Projekt waren noch nie Anzeichen von Neutrinos in einem Teilchenbeschleuniger entdeckt worden. Wir stehen also erst am Anfang einer neuen Richtung in unserem Verständnis der Elementarteilchen, aus denen unser Universum besteht.
Ab 2022 soll FASERν, ein neuer Kernemulsionsdetektor, der viel größer und empfindlicher ist als derjenige, der zu dieser wichtigen Entdeckung geführt hat, in Betrieb genommen werden und nach Angaben der Wissenschaftler bereits beim nächsten Experiment "mehr als 10.000 Neutrino-Wechselwirkungen" aufzeichnen können.